Es war einmal
ein klitzekleines Sandkorn, das mit seinen Brüdern und Schwestern
auf einem Sandberg in der Unendlichkeit des Firmaments lebte.
Eines Tages, gerade als der Stern von Bethlehem seine nächtliche
Reise am Himmel antreten wollte, verlor der Komet von seinem Schweif
einen silbernen Strahl, der den Sand in gleißendes Licht
eintauchte. Erschrocken rieb sich das Korn die Augen und konnte
sich nicht mehr an seinem Platz festhalten. Es purzelte kreuz und
quer, hin und her von einer Seite zur anderen, und rutschte
zusammen mit seinen Geschwistern den Lichtstrom entlang, bis alle
wie funkelndes Gold lautlos zur Erde fielen. Dort blieben sie
an einem großen Strand am Meer liegen. Tag für Tag, jahrein –
jahraus wurden sie von den Wellen umspült und vom Wind zu einer
hohen Düne aufgeschichtet. So verging die Zeit zwischen Ebbe und
Flut, Gestern und Morgen, Tag und Nacht.
Das kleine
Sandkorn lag verborgen in der Finsternis und wünschte sich nichts
sehnlicher, als wieder ans Licht zu gelangen, um die Welt mit eigenen Augen zu erkunden. Hatte es doch aus zahlreichen Erzählungen der anderen
Körner gehört, wie schön die Erde war. Im Sommer leuchteten die
Blumen in den prächtigsten Farben, und wenn der Wind sanft über
die Blütenkelche strich, verströmten sie einen Duft, der trunken
machte. Im Winter legten sich Eiskristalle auf die Sträucher und
glitzerten wie Millionen winziger Sterne.
„Ach, würde
mich doch der Wind hinaustragen ans Licht, dann könnte ich all
diese Dinge selbst sehen“, seufzte das kleine Korn traurig.
Viele seiner
Artgenossen waren weit gereist und hatten in fernen Ländern
spannende Abenteuer erlebt. Die Kinder ließen den Sand durch ihre
Finger rieseln und formten aus ihm wunderschöne Fische, Seesterne
und Muscheln. Durch die Fantasie der kleinen Erdenbewohner
entstanden hohe Berge, prachtvolle Schlösser und trutzige Burgen.
So verging
wieder ein Jahr ums andere und der Frühling wechselte hinüber in
den Sommer. Am Strand standen überall Liegestühle aus Holz. Es sah
freundlich aus und lud zum Verweilen ein. Einige waren mit
rot-weiß gestreiftem Stoff überzogen, andere leuchteten blau-weiß
in der Sonne und manche hatten eine grün-weiße Bespannung, je
nachdem, zu welcher Strandbude sie gehörten. Die Budenbesitzer
gingen mit einem Bauchladen durch die Reihen der Sommergäste, um
Eis oder kühle Getränke zu verkaufen, und die Kinder liefen
fröhlich lachend mit Eimer, Schaufel und Förmchen ans Meer, um
dort im Sand zu spielen. Es war ein gar lustiges Treiben. Sobald
sich aber der Tag seinem Ende zuneigte und die Sonne glutrot am
Horizont stand, wurde es stiller. Dann dauerte es nicht lange bis
außer dem Rauschen des Wassers, wenn bei Flut die Wellen auf den
Strand und wieder zurück ins Meer rollten, nichts mehr zu hören
war.
Jedoch eines
Abends ertönte aus der Ferne ein leises Grollen. Blitzschnell
wurde der Himmel nachtschwarz und sogar der Mond versteckte sich
hinter einer dunklen Wolke. Vom Meer zog ein mächtiges Unwetter
auf. Heulend tobte der Sturm über den Strand und stemmte sich mit
aller Kraft gegen die Düne. Zitternd und bebend hielten sich die
Körner aneinander fest, während der Wind mit aufgeblähten Wangen
heftig gegen den Sandberg blies. Plötzlich wurden sie von einer
Windböe erfasst und hinausgetragen. Minutenlang wirbelten sie
umeinander, sanken zur Erde hinab, um im nächsten Augenblick
wieder hoch in die Luft geschleudert zu werden. Das kleine
Sandkorn erfüllte ein unbändiges Glücksgefühl, als es
merkte, dass es aus der dunklen Düne entkommen war. Auch
seine Geschwister waren überglücklich.
„Juchei, wir
sind frei“, sangen sie fröhlich aus voller Brust. Sie fassten sich
bei den Händen und tanzten einen wilden Reigen. Ausgelassen
tollten sie herum. Sie stellten sich nebeneinander, legten sich
aufeinander und formten sich zu den fantasievollsten Gebilden.
Zuerst entstand ein Schopf und schwuppdiwupp,
Ohren, Augen,
Nase, Mund,
danach der
Bauch und Rumpf,
zwei Arme und
zwei Beine,
als Hosenknöpfe
Steine.
Selbst der
Wind freute sich mit den kleinen Körnern und hielt sich vor Lachen
seinen runden Bauch. Vorsichtig entfernte er sich, damit er durch
seinen Atem die Figur nicht beschädigte. Noch aus weiter Ferne
hörte man sein vergnügliches Kichern.
„Hihi Sandie …
Sandie …“
Schon sehr früh am nächsten Morgen kamen die ersten
Besucher, um sich eine Liege und den besten Platz am Strand zu
sichern. Der Sturm hatte sich gelegt und die Sonne schickte ihre
Strahlen unermüdlich zur Erde. Sandie, das Sandwesen lag zwischen
den Dünen und blinzelte in die Helligkeit. Es genoss die Wärme auf
seinem Bauch und beobachtete dabei das lebhafte Treiben rundherum.
Am Ende der Sandhügel bemerkte es eine Familie, die zielstrebig
den Strand ansteuerte. Der Vater schleppte eine orangefarbene
Kühlbox und die Mutter mühte sich mit einem großen Korb ab, in dem
Strandlaken, Badehosen und verschiedene Sonnencremes verstaut
waren. Hinter den Erwachsenen lugte zwischen einem
Drachenschwimmreifen aus Gummi der blonde Lockenkopf eines kleinen
Jungen hervor.
„Mama, wann sind wir endlich an unserem Platz. Ich
will ins Wasser“, jammerte er.
„Zuerst bauen wir aber eine Burg“, machte sich
seine jüngere Schwester bemerkbar, die mit Eimerchen, Schaufel und
Harke neben dem Bub einherlief.
„Du und deine blöde Sandburg! Im Sand zu spielen
ist doch langweilig, das machen nur kleine Kinder“, erklärte er
großspurig.
„Gar nicht!“, konterte die Kleine und streckte
dabei ihrem Bruder die Zunge heraus.
„Kinder, nun zankt euch doch nicht. Ihr könnt doch
beides machen, eine Burg bauen und im Meer schwimmen. Nur schön
zusammenbleiben müsst ihr, damit ihr nicht verloren geht“, mischte
sich sogleich der Vater ins Gespräch ein.
Endlich fanden sie zwei freie Liegestühle. Die
Eltern ließen sich erleichtert darauf nieder, während die beiden
Kinder lachend davonliefen.
„Tom, schau mal, hier ist ein schöner Platz zum
Bauen“, rief Katie. Sie stapfte durch den Sand bis zu einer Düne.
„Aua! Das tut doch weh!“, vernahm das Mädchen
plötzlich eine fremde Stimme und blickte sich verblüfft um. Aber
außer Tom war niemand zu sehen.
„Hast du das auch gehört?“, fragte Katie flüsternd
ihren Bruder. Auch der Junge schaute sich verstohlen um.
„Es ist niemand da“, erwiderte er lachend und
begann mit der Schaufel den Sand aufzuhäufen. Katie hockte sich zu
ihm und half tüchtig mit. Immer wieder füllten sie den Eimer und
leerten ihn jedes Mal an der ausgewählten Stelle aus.
Zwischendurch klopften sie den Sand mit beiden Händen fest. Aber
der Berg wurde und wurde nicht größer, so sehr sie sich auch
bemühten. Schon bevor die Kinder den nächsten Eimer ausschütteten,
rieselte alles wieder an den Seiten hinab, weil es zu trocken war.
„So wird das nichts“, rief Tom schließlich, „wir
müssen das Ganze nass machen.“
Flink schnappte er sich den Eimer und lief ans
Meer. Unermüdlich schleppte der Junge Wasser herbei und goss es
auf den kleinen Hügel. Doch auch das nützte nichts, denn nun
bildete sich dort, wo die Burg entstehen sollte, eine Kuhle mit
Schlamm. Wütend schleuderte Tom den Behälter fort.
„Autsch, das gibt eine heftige Beule“, schimpfte
jemand lautstark.
Die Kinder sahen sich suchend um, aber sie konnten
auch dieses Mal nichts Ungewöhnliches entdecken.
„Hier unten bin ich, ihr müsst nach unten sehen“,
ertönte die Stimme erneut.
Katie wich einen Schritt zurück und wäre beinahe
auf den Hosenboden gefallen. Erschrocken starrten die Geschwister
auf das Sandwesen, welches vor ihnen saß und sich die Stelle an
der Stirn rieb, wo es von dem Eimer getroffen worden war.
„Ojeh, ojeh, ich wollte euch nicht erschrecken“,
jammerte es zerknirscht, als es die ängstlichen Gesichter der
beiden sah.
„Wer bist du?“, fragte Tom jetzt neugierig und
hockte sich auf den Boden, um das Wesen näher in Augenschein zu
nehmen. Es sah lustig aus mit seinen langen, großen Ohren, die
fröhlich hin und her wackelten. Die stacheligen Haare standen wirr
vom Kopf ab.
„Ich bin Sandie. Ich komme aus den Weiten des
Firmaments und lebe mit meinen Brüdern und Schwestern seit
Jahrtausenden dort in der Düne“, erklärte es und deutete mit der
Hand auf einen Sandhügel hinter den Kindern. Ungläubig sahen sich
die beiden an, aber Sandie fuhr unbeirrt fort. „Ich habe euch
schon eine ganze Weile beobachtet wie ihr versucht habt, eine Burg
zu bauen.“
„Ja, aber das klappt mit dem doofen Sand nicht“,
sagte Tom und presste verlegen seine Hand auf den Mund, als ihm
einfiel, dass Sandie ja auch aus Sand bestand. „Außerdem ist die
ganze Mühe sowieso umsonst, weil die Burgen von der Flut immer
wieder weggespült werden“, fügte er noch hinzu.
„Nicht, wenn ihr den magischen Sand von meiner Düne
verwendet. Er wird nach ein paar Stunden so hart, dass eurer Burg
das Wasser nichts mehr anhaben kann. Versucht es einfach mal!“,
erwiderte Sandie und lächelte verschmitzt.
Emsig machten sich Tom und Katie erneut ans Werk
und schichteten Eimer um Eimer von dem Zaubersand auf. In
Windeseile entstand eine Ritterburg mit Türmen und Zinnen rund
auf der wehrhaften Mauer. Wie aus dem Nichts fügten sich die
Sandkörner zusammen und formten eine Brücke, die über den
Wassergraben führte. Schnell verzierten die Kinder die Türme mit
kleinen Muscheln, die sie zuvor am Strand gesammelt hatten.
Während Katie den höchsten Turm mit einer Feder als Fahne
schmückte, lief Tom in ihre Herberge zurück und kam bald darauf
mit einigen seiner Playmobil Rittern zurück. Von nun an spielten
die beiden jeden Tag in ihrer Sandburg, die den Gezeiten
beharrlich standhielt.
Sandie saß mit gekreuzten Beinen dabei und
plapperte munter drauflos. „He ihr Ritter, zückt eure Schwerter
und verteidigt unsere Festung gegen alle Feinde“, rief es aus, und
wackelte vor lauter Freude über das spannende Spiel abermals mit
seinen Ohren wie wild hin und her.
Als der Urlaub zu Ende ging, wurden die Kinder von
Tag zu Tag trauriger. Tom hatte sich schon seit geraumer Zeit
Gedanken darüber gemacht, wie er es anstellen könnte, von dem
Zaubersand etwas mit nach Hause zu nehmen, ohne dass es jemand
merken würde.
In der
Nacht vor der Abreise schlich er an den Strand hinunter. Es war
stockdunkel und selbst der Mond ließ sich hinter den dichten
Wolken nicht sehen. Es herrschte eine unheimliche Stille. Nur das
geheimnisvolle Rauschen des Meeres war zu hören. Als Tom plötzlich
gegen einen Sonnenschirm stieß und hinfiel, hätte ihn beinahe der
Mut verlassen. Tapfer rappelte er sich hoch und lief weiter, bis
er die richtige Düne fand. Kaum hatte er sich gebückt, um den
mitgebrachten Eimer mit dem magischen Sand zu befüllen, leuchtete
ein silberner Strahl am Himmel auf. Millionen kleiner Körner
wirbelten vor Toms Augen hoch und hüpften von selbst in seinen
Eimer, wo sie blitzend und blinkend liegen blieben. Es hatte den
Anschein, als wäre der Behälter mit zahlreichen Diamanten gefüllt.
Mitten auf dieser glitzernden Pracht saß Sandie und winkte dem
erstaunten Bub fröhlich zu.
Fortsetzung
folgt ...
Copyright©Marika Krücken
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