In einem fernen Land, das über
seine Grenzen weithin bekannt war, lebte einst ein stolzer
Königssohn. Der junge Mann war recht ungestüm. Er wollte
unbedingt den Thron besteigen und das Volk regieren, obwohl sein
Vater noch lebte. Ungeduldig trat er vor den König und sagte:
„Vater, Ihr seid alt und es ist
an der Zeit für Euch abzudanken. Lasst mich jetzt die Geschicke
unseres Volkes lenken. Ich bin jung und kräftig.“
Der König fühlte bei diesen
Worten einen großen Schmerz im Herzen. Er spürte den Stich so
stark, als wäre dieser mit einem Dolch ausgeführt. Sein eigen
Fleisch und Blut versuchte ihn vom Thron zu drängen! Was hatte
er nur bei der Erziehung des Jünglings falsch gemacht?
„Du willst unser Volk regieren?
Es beschützen, vor den kriegerischen Mächten unserer
Nachbarländer? Es leiten, ohne jegliche Erfahrung und Weisheit?
Mein Sohn, dafür musst du dir erst den Thron verdienen!“
„Wie soll ich mir Euren Platz
verdienen? Sagt mir, gegen wen ich kämpfen muss?“
Der Prinz zog sein Schwert. Wild
stieß er damit einige Male in die Luft, als müsse er einen
unsichtbaren Feind besiegen.
„Zügele dein hitziges
Temperament“, erwiderte der Herrscher. „Es gibt einen geheimen
Ort, an dem sich eine Kugel und das Zauberwort befinden. Wenn du
mir beides bringst, dann soll der Thron dein sein.“
Hochmut sprach aus dem Blick des
Prinzen, als er seinen Vater ansah und unfreundlich erwiderte:
"Was verlangt Ihr da von mir? Euer Begehren ist doch wohl meines
Standes nicht würdig. Für Aufgaben solcher Art habt Ihr doch
Eure Vasallen. Schickt einen von ihnen, er wird Euch die Dinge
schon bringen, wenn sie so wichtig sind. Mich aber verschont mit
solch niedrigen Diensten."
Der alte König wurde sehr zornig,
als er die unbedachte Rede seines Sohnes hörte. Wütend rief er:
"Wenn du es schon nicht abwarten kannst, meinen Platz
einzunehmen, du Grünschnabel, dann musst du schon selbst an
diesen gefährlichen Ort reiten! Die Hexe Tunichgut hält in ihrem
Zauberwald Kugel und Wort verwahrt. Der Weg ist beschwerlich und
wird dich hoffentlich zu mancher Einsicht bringen."
“Nichts leichter als das“, dachte
der Prinz. Da der König ahnte, dass sein Sohn die Sache nicht
mit dem nötigen Ernst behandeln würde, warnte er ihn: „Auf der
Reise werden dir viele Gefahren drohen. Also, sei auf der Hut!
Der Weg ist weit bis zum Hexenwald. Ein ganzes Jahr, wenn nicht
länger, wirst du unterwegs sein. Es gilt sieben Eichen zu finden
und dreizehn Flüsse zu überqueren.“
„Das macht mir keine Angst.
Eichen und Flüsse können mir nicht gefährlich werden“, prahlte
der Königssohn. „Da müssen schon ganz andere Gefahren lauern.“
„Deine Aufgabe wird es sein, den
Schrein der Hexe Tunichgut zu zerstören, um ihr die Macht zu
entreißen. Stell es dir nur nicht so einfach vor.“
„Pah, es wird mir ein Vergnügen
bereiten, die hässliche Alte mit meinem Schwert zu vernichten!“
Dabei hob er seine Waffe und schwang sie mit kreisenden
Bewegungen über seinem Kopf.
Der König schüttelte sein weißes
Haupt und sagte: „So versuche dein Glück, mein Sohn. Schon
morgen sollst du dein Pferd satteln und dich auf den Weg machen.
Je früher du die Aufgabe erfüllst, umso eher ist der Thron
dein.“
In aller Frühe bestieg der Prinz
sein Ross und ritt hoch erhobenen Hauptes aus dem Schlosshof.
Lediglich sein Schwert begleitete ihn auf seinem Weg ins
Ungewisse. Nicht einmal Abschied genommen hatte er von seinem
Vater, der ihm von seinem Schlafgemach aus nachblickte.
So ritt der Königssohn Stunde um
Stunde, Tag für Tag. Er folgte dem Weg der sieben Eichen. Viele
Pfade waren beschwerlich. Oft musste er Umwege reiten, da nicht
über alle dreizehn Flüsse Brücken und Stege führten.
Müde und hungrig stieg er tief in
der Nacht in den Herbergen ab, wo er nach einem kargen Nachtmahl
erschöpft in einen unruhigen Schlaf fiel.
Mitten im Wald, zwischen
knorrigen alten Bäumen, stand ein mit Ruß angeschwärztes Haus.
Kein noch so winziger Lichtstrahl drang durch das hohe Gehölz
und erreichte diesen unheimlichen Platz. Es war der dunkelste
Flecken im ganzen Wald. In dieser Hütte saß eine hässliche alte
Frau an einem Tisch und blickte in eine gläserne Kugel. Mit dem
Buckel auf dem Rücken und der großen, schwarzen Warze auf ihrer
Hakennase glich sie einer bösen Hexe. Und das war sie auch. Es
war die Hexe Tunichgut, die dort ihr Unwesen trieb. Jeden Morgen
schaute sie in ihre Zauberkugel, um zu sehen, ob sich jemand dem
geheimen Ort näherte. Viele tapfere Jünglinge hatten schon
versucht, in den Wald einzudringen, um der Hexe den Schrein zu
entreißen, in dem sie das Zauberwort aufbewahrte. Alle
Eindringlinge hatten es mit dem Leben bezahlen müssen oder
wurden in andere Gestalten verwandelt.
Plötzlich sprang Tunichgut wütend
auf. Der Stuhl rutschte über den Boden und fiel laut polternd
um.
„Wer wagt es, in meinen Wald
einzudringen? Hier hat niemand etwas zu suchen! Na warte
Bürschchen, dich werde ich schon bald vertreiben!“
Wieder schaute sie angestrengt in
die Kugel.
Als der Prinz am nächsten Morgen
in aller Frühe seinen Weg fortsetzte, war es noch neblig und
kalt. Fröstelnd zog er seinen Umhang enger um seine Schultern
und ritt aus dem Hof der Herberge.
Tagsüber schien die Sonne und er
war frohen Mutes, als er Meile um Meile auf seinem Pferd
zurücklegte.
Doch so sollte es nicht immer
bleiben, denn wie üblich folgte dem sonnigen Tag eine weitere
Nacht. Dicke, dunkle Wolken zogen im Osten auf und breiteten
sich schnell über dem Himmelszelt aus. Weder Sterne noch Mond
leuchteten, als der Prinz am Rand des Zauberwaldes ankam.
“Weit und breit keine Herberge zu
sehen“, dachte er und schaute sich ängstlich um. Wo soll ich
mein müdes Haupt niederlegen?
Dem Königssohn blieb nichts
anderes übrig, als in den Wald hineinzureiten, um zwischen den
Bäumen ein wenig Schutz vor den aufziehenden Nebelschwaden und
der einsetzenden Kälte zu suchen. Unheimlich war dem jungen Mann
zumute. Langsam setzte sein Pferd ein Bein vor das andere und
bahnte sich den Weg durch das dichte Unterholz.
In allen Ecken ächzten und
stöhnten die Bäume. Sie neigten sich im aufkommenden Wind dem
Boden zu. Ihre Zweige streiften Arme und Beine des Prinzen, als
würden Klauen nach ihm greifen. Fast schon hätte er aufgeschrien.
Da erblickte er vor sich im Wald kleine Lichter. Erleichtert
atmete der Königssohn auf, doch schon im nächsten Moment, als er
gerade darauf zureiten wollte, waren sie wieder verschwunden und
tauchten an anderer Stelle erneut auf.
Dem Prinzen wurde ganz bange ums
Herz.
Ging es hier noch mit rechten
Dingen zu?
Noch nie hatte er solche Ängste
ausgestanden wie in diesen letzten Minuten hier im Wald. Schon
sah er seinen Tod nahen, als ihn ein seltsames Wesen
umschwirrte.
Hauchfeine Flügelchen
umflatterten sein Gesicht, und ein feines Stimmchen wisperte:
"Edler Prinz, was treibt Ihr hier so allein? Hier herrscht die
Macht des Bösen." Dem Jüngling kräuselte sich das Nackenhaar.
Erst hatten ihn die grausigen Irrlichter beinahe ins Verderben
geführt, und jetzt narrte ihn schon wieder ein Spuk! Flink zog
er die blitzende Klinge aus der Scheide und rief mit bebender
Stimme: "Wer immer du auch bist, der mir hier ans Leder will,
zeig dich, denn ich weiß mich wohl zu wehren!"
Aber so sehr er auch drohte, kein
mächtiger Feind ließ sich blicken, mit dem er sich hätte messen
können.
Stattdessen landete plötzlich
eine winzige Gestalt auf seiner Nasenspitze und hüpfte fröhlich
hin und her. Der Königssohn glaubte sich fast um den Verstand
gebracht, als dieses daumennagelgroße Weib auch noch zu singen
begann.
Als das Wesen geendet hatte,
erlangte der Prinz seine Fassung zurück. Der Schrecken war
vorüber und er wollte gerade etwas sagen, als die Erscheinung
auf seiner Nasenspitze sprach:
“Ihr habt sehr viel Mut, diesen
Wald zu betreten, junger Prinz. Wisst Ihr denn nicht, was Euch
hier erwartet? Dass Tunichgut, die Hexe, ihr Unwesen treibt?“
„Ich habe keine Angst vor ihr.
Bis hierher bin ich unbeschadet gekommen, so werde ich auch
meinen Weg weiterhin fortsetzen.“ Er schaute das Wesen an. Seine
anfängliche Angst war wie weggeblasen. „Warum sollte ich vor
einem so winzigen Elfenwesen in Panik geraten?“, ging es ihm
durch den Sinn.
„So frag ich nochmals: Was wollt
Ihr also hier?“ Die feine Stimme klang sehr eindringlich und er
erzählte der Erscheinung den Grund seiner Reise.
„Ihr wagt viel, um den Thron
Eures Vaters zu besteigen. Doch es ist ein gefährlicher Weg.“
„Davor ist mir nicht bang“,
sprach der Prinz laut und griff augenblicklich zu seinem
Schwert. Die Erscheinung sprang von seiner Nasenspitze und
setzte sich auf den Kopf des Pferdes.
„Seid nicht allzu kühn! Schon
viele Eurer Art wollten die Hexe besiegen und kehrten niemals
wieder nach Hause zurück. Nun will ich Euch sagen, dass wir
einst ein stolzes Elfenvolk waren und hier am Waldesrand
glücklich und zufrieden lebten. Wir trugen Kleider aus bunten
Blumen, doch Tunichgut hasste unsere Schönheit und Fröhlichkeit
und nahm uns alle Farben, weil sie selbst nur Schwarz liebt.
Und schwarz ist auch ihre Seele.
Nur ein Jüngling, der Mut genug beweist, kann die Hexe besiegen
und den Fluch um uns bannen.“
„Ich bin bereit“, sagte der Prinz
sehr überzeugend.
„So will ich Euch beistehen und
bis an das Ziel begleiten.“
Während der Prinz sich mit der
winzigen Elfe beratschlagte, welchen Weg sie nehmen sollten,
wurden sie von Tunichgut in ihrer Glaskugel beobachtet.
„Ach nein, das kleine Elfchen. Es
spielt sich als Beschützerin des Königssohns auf? Na, wartet,
euch werde ich zeigen, wer hier die Herrscherin des Zauberwaldes
ist!“
Die garstige Alte deckte ihre
Kugel mit einem schwarzen Tuch ab und erhob sich von dem
wackligen Holzstuhl. Sie betrat eine der hinteren Kammern und
holte einen riesigen Kessel heraus. In dem Nebenzimmer, das bis
unter die Decke mit dicken Zauberbüchern gefüllt war, fuhr sie
mit ihren langen, spindeldürren Fingern über die Buchrücken, bis
sie eines von den Exemplaren herausholte.
„Hier müssen die Zutaten für den
Zaubertrank aufgeschrieben sein, den ich dem Prinzen und dem
Elfchen verabreichen werde. Sie werden ihr schwarzes Wunder
erleben.“ Dabei kicherte die Alte geheimnisvoll vor sich hin.
In der Hexenküche hängte sie den
Kessel über das offene Feuer und goss Wasser aus einer Kanne
hinein. Dann nahm sie Kröteneier aus einer Schüssel vom Regal,
öffnete eine Pappschachtel und holte drei Spinnenbeine heraus.
Das alles warf sie zusammen mit einem großen Mauseohr in das
kochende Wasser.
„Nun fehlt noch eine Handvoll
Maden“, sagte sie und ging hinter die Hütte. Dort befand sich
ein großer Komposthaufen. Mit bloßen Händen wühlte sie darin
herum und brachte drei dicke, fette Maden zutage. Diese nahm sie
mit in die Küche und warf sie zu den anderen Zutaten in den
Kessel.
Jetzt musste sie nur noch warten,
bis der Prinz und seine Begleiterin sich ihrer Behausung
näherten. Ein kleiner Fingerhut voll von diesem Elixier genügte,
um den Königssohn zu verzaubern. So stand es wenigstens in dem
Zauberbuch. Und die beiden werden auf ihrer Wanderung durch den
Wald sehr durstig werden.
Unterdessen ritt der Prinz mit
dem Elfenwesen auf seiner Schulter über einen breiten, steinigen
Weg tiefer in den Wald hinein. Die Baumkronen wurden immer
dichter und ließen die brennenden Sonnenstrahlen kaum noch
durch. Und dennoch wurden er und seine kleine Begleiterin
zusehends durstiger.
„Was gäbe ich jetzt für einen
Tropfen Wasser“, sagte der Jüngling und wischte sich mit dem
Handrücken über die feuchte Stirn.
„Tunichgut hat alle Bäche und
Quellen versiegen lassen. Schaut Euch ruhig um. Auch die
köstlichen Beeren, die unser Volk so liebt, sind vertrocknet.
Und habt Ihr bemerkt, dass kein einziger Vogel in den Zweigen
singt? Kein Reh und kein Fuchs unseren Weg kreuzen? Auch dafür
ist die Hexe verantwortlich.“
„Das ist wohl wahr. Hier ist es
so still, nicht einmal der Wind säuselt in den Bäumen und lässt
die Blätter rauschen. Seltsam und unheimlich“, antwortete der
Königssohn.
„Wie lange müssen wir denn noch
bis zum Haus der Hexe reiten?“
„Seid nicht so ungeduldig. Ihr
werdet noch früh genug das Fürchten lernen. Und sagt nicht, ich
hätte Euch nicht gewarnt“, erwiderte die kleine Elfe.
Sie ritten schweigend weiter, bis
der Weg schmaler wurde. Rechts und links des Pfades ragten
plötzlich drohend zwei dicke, schwarze Bäume empor, deren kahle
Äste ineinander verschlungen eine Art Tor bildeten.
„Der Eingang zu Tunichguts
Reich“, wisperte das Elfenwesen dem Jüngling ins Ohr.
„Jetzt gibt es kein Zurück mehr!“
Der Prinz fühlte sich mehr als
unbehaglich, nachdem er die Worte seiner treuen Begleiterin
vernahm. Plötzlich verstand er, dass sie sich nur aufgrund
seines vorschnellen Wesens in dieser Gefahr befanden. Aber diese
Erkenntnis half ihnen nicht mehr. Nun galt es, List und Verstand
einzusetzen.
"Von hier gehen wir zu Fuß
weiter", wandte er sich der Elfe zu und schlang den Zügel des
Pferdes um einen der schwarzen Baumpfosten. "Setz' dich ruhig
auf meine rechte Schulter, dann kann dir so leicht nichts
geschehen."
Auf Zehenspitzen schlich der
Prinz unter dem unheimlichen Torbogen hindurch und erstarrte
voller Entsetzen. So furchtbar hatte er sich ein Hexenhaus nicht
einmal in seinen kühnsten Träumen vorgestellt. Rabenschwarz und
Unheil verkündend stand es da, die Wände voller Zaubersprüche.
Als Dach trug es eine Teufelsfratze, die höhnisch jeden
Unglücklichen angrinste, der sich hierher verirrte.
Dem Jüngling krampfte sich vor
Angst der Magen zusammen, als ein giftiges Fauchen die Stille
unterbrach. Zwei schillernde, grüne Augen starrten ihn an und
waren im gleichen Augenblick wieder verschwunden. Die
Hexenkatze! Mit großen Sätzen sprang die Schwarze jetzt zu ihrer
Herrin, um die Ankunft des Fremdlings zu melden.
Kaum war das Tier verschwunden,
öffnete sich laut knarrend die Tür des Hexenhauses.
Erschrocken schrie der Prinz auf,
als im selben Moment ein altes Weib heraustrat. Ganz in Schwarz
gehüllt trug sie auf dem Kopf ein dunkles Tuch, unter dem das
strubbelige, verfilzte Haar zum Vorschein kam. Ihre langen
Finger, die sie nach den beiden Ankömmlingen ausstreckte, waren
mit schwarzen Nägeln bewachsen. Ihre Augen jedoch glichen
glühenden Kohlen, als sie den Prinzen musterte. Dabei überzog
ein hämisches Grinsen ihr faltiges Gesicht.
„Ich habe euch schon erwartet,
ihr Hübschen. Tretet ein in meine bescheidene Hütte. Ihr werdet
Durst und Hunger haben. Für Wandersleute steht bei mir immer ein
Süppchen auf dem Herd bereit. Also kommt herein!“ Sie machte
eine einladende Bewegung.
Bevor der Königssohn der
Aufforderung Folge leisten konnte, zupfte ihn die kleine Elfe am
Ohr. „Gebt Acht! Der Alten ist nicht zu trauen. Lasst Euch etwas
einfallen, damit Ihr auf keinen Fall von der Suppe essen müsst,
denn die ist bestimmt vergiftet!“
„Was zögert ihr so lange? Ich
habe die köstliche Mahlzeit schon aufgeschöpft. Kommt, damit sie
nicht kalt wird.“
Während der Prinz langsam Schritt
für Schritt näher kam, dachte er angestrengt nach, wie er die
alte Hexe überlisten könnte.
„Zuerst aber muss ich mich
stärken und die Alte in Sicherheit wiegen, damit sie nicht
gleich herausfindet, was ich hier will“, dachte der Prinz und
trat über die Türschwelle.
Das Innere des Hexenhauses sah
genauso hässlich aus, wie die äußere Fassade. Es dauerte eine
Weile, bis sich der Prinz an die schummrige Atmosphäre der Küche
gewöhnt hatte.
„Nun? Ein Süppchen?“, gurrte
Tunichgut ganz dicht neben ihm und freute sich diebisch, dass er
das listige Glitzern ihrer glühenden Augen nicht bemerkte.
Dagegen sah es aber das kleine Elfchen, das sich halb unter dem
Westenkragen des Jünglings verborgen hielt.
Der Prinz dachte sekundenlang an
die Warnung seiner Begleiterin. Sein Hunger war groß, doch die
Angst, es könnte etwas in der Mahlzeit sein, noch größer. Da
fiel sein Blick auf den Glaskrug mit klarem Wasser und er
entschied sich dafür. „Nein, nach Suppe verlangt´s mich nicht,
eher nach etwas, was meinen Durst stillt“, sagte er daher.
„Aber gerne!“ Die Hexe wies mit
ihrem krummen Zeigefinger zum Tisch. „Bitte, bediene dich!“
Kurz zögerte der Jüngling und
dann setzte er den Krug an seine spröden Lippen. Wie eine
erfrischende Quelle rann die Flüssigkeit seine ausgetrocknete
Kehle hinunter und gelangte wohltuend in sein Innerstes. Er
hatte den Krug zur Hälfte geleert, als es in seinem Kopf zu
dröhnen begann und sich der Raum um ihn drehte.
Wie aus weiter Ferne hörte er das
Splittern von Glas, als der Krug seinen Händen entglitt und auf
dem Steinboden zerschellte. Ein ohrenbetäubendes Lachen drang an
sein Ohr, bevor er niedersank.
Voll Schrecken flüchtete sich das
Elfchen auf das rußige Regal neben dem Hexenherd und blickte,
hinter einer Suppenkelle verborgen, auf den wie tot daliegenden
Prinzen. Das Entsetzen klebte ihr fast die Flügel zusammen. Wie
sollte sie ihm helfen? Da fiel ihr Blick auf die Hexensuppe.
"Warte nur, du gemeines, hässliches Weib, ich werde dich mit
deinen eigenen Waffen schlagen", dachte die Kleine. Lautlos flog
sie direkt in den Suppentopf hinein, benetzte ordentlich ihre
Flügel mit dem Gebräu, setze sich auf die gebogene Nase
Tunichguts und schüttelte sich heftig. "Gut, dass dein Gifttrank
bei unsereins nicht wirkt", rief sie.
Vor lauter Schreck riss die Hexe
ihren Mund weit auf und wollte protestieren. Dabei gerieten
mehrere Suppentropfen in die Öffnung und liefen ihren Rachen
hinunter. Da die Alte dem Süppchen wesentlich mehr von ihrem
Hexengebräu beigemischt hatte, genügten nur wenige Tröpfchen, um
sie selbst unschädlich zu machen.
Was eigentlich für den Prinzen
gedacht war, schlug nun mit voller Macht auf die Hexe über. Sie
begann zu ächzen, krümmte sich vor Schmerzen und sank mit einem
lauten Stöhnen auf den Boden ihrer Hütte. Dort wälzte sie sich
im Schmutz hin und her, bis sie vor lauter Wut und Zorn einen
Purzelbaum schlug.
Das kleine Elfchen, das sich noch
flink in Sicherheit gebracht hatte, saß auf dem Tisch und
schmunzelte vor sich hin. „Das geschieht dir recht, du
Teufelsweib!“
Schließlich wurde es dem winzigen
Wesen doch etwas mulmig zumute. Die Arme und Beine der Hexe
begannen zu schrumpfen, ihr Bauch quoll auf und wurde immer
dicker und dicker, sodass er zu platzen drohte. Ihre Hakennase
verwandelte sich in eine klobige Kartoffelknolle und an ihrem
spitzen Kinn spross ein fieser, struppiger Bart. Dafür hatte sie
ihre Haare auf dem Kopf verloren und sah mit ihren riesigen
Ohren einfach lächerlich aus.
Die kleine Elfe hielt sich ihren
Bauch vor Lachen. Die Alte schrumpfte immer weiter und passte
fast in die Schuhe des Prinzen.
Doch, was geschah in dieser Zeit
mit dem Jüngling?
In diesem Moment schlug der
Königssohn die Augen auf und erwachte, wie Dornröschen aus
seinem hundertjährigen Schlaf. Erstaunt blickte er sich um.
„Rasch, rasch! Da liegt die
Kugel!“, rief die Elfe und zeigte auf die Zauberkugel, die unter
dem schwarzen Tuch verborgen neben ihr auf dem Tisch lag.
„Schnell! Schnappt sie Euch und dann nichts wie weg von diesem
unheimlichen Ort.“
„Aber was ist geschehen?“,
versuchte der Prinz sich mühsam zu erinnern.
„Ihr habt aus dem Krug getrunken
und seid danach tief und fest eingeschlafen. Aber die alte Hexe
hat einige Spritzer von der Suppe schlucken müssen, die den
eigentlichen Hexenzauber enthielt. Schaut nur, was aus ihr
geworden ist. Sie ist nun keine mächtige Zauberin mehr, sondern
ein kleiner hässlicher Gnom.“
„Spinnenbeine und Kröteneier, ich
verfluche euch!“, zeterte die geschrumpfte Vettel.
Nun musste auch der Jüngling
lauthals lachen, als er sah, wie das winzige Etwas versuchte, am
Tischbein hinaufzuklettern. Immer wieder landete es auf dem
Rücken, weil sein dicker Bauch nicht zuließ, dass es mit den
kurzen Armen das Holz umfassen konnte.
„Nun macht geschwind und lasst
uns diesen verhexten Ort verlassen“, mahnte die Elfe zur Eile.
Der Prinz sah sich rasch um, nahm
die Zauberkugel und schickte sich an, das Hexenhaus zu
verlassen.
„So wartet und nehmt mich mit!“,
vernahm er das Stimmchen der Elfe.
„Wozu?", erwiderte der Königsohn
barsch. „Deiner Hilfe bedarf ich nicht mehr. Die Kugel ist mein
und die Hexe nur noch ein kümmerliches, wehrloses Wesen.“ Mit
diesen Worten verließ er hocherhobenen Hauptes das Hexenhaus.
Als er sein Pferd bestiegen
hatte, ritt er eilig davon, ohne noch einen Blick
zurückzuwerfen. So bemerkte er nicht, dass aus dem
daumennagelgroßen Elfchen wieder eine richtige Elfe geworden
war. Der Prinz drängte sein Ross zur Eile, als sei der Teufel
hinter ihm her und bald hatte er den Waldrand erreicht.
Da drang plötzlich - ohne
Vorwarnung - das Sonnenlicht durch die Bäume und blendete ihn so
sehr, dass er die Augen schließen musste. "Verflucht!", brüllte
der Jüngling und zog geistesgegenwärtig die Zügel seines Pferdes
an, bis das Tier stehen blieb. Noch bevor der Königssohn die
Lider wieder öffnete, vernahm er Stimmen - helle, sirrende
Stimmen - die immer näher kamen und ihn daran hinderten, seinen
Weg fortzuführen. Für einen Augenblick verschlug es ihm die
Sprache, als er all die vielen Elfen in ihren bunten Gewändern
sah. Sein Gesichtsausdruck war zuerst verwundert, schlug aber
kurz darauf in Ärger um. "Macht Platz, damit ich weiterreiten
kann!", sagte er unfreundlich und drückte die Kugel, welche
immer noch mit dem Tuch umhüllt war, fest an seine Brust.
Eine der Elfen trat vor und
sprach: "Ich bin die Königin hier und möchte mich im Namen
meines Volkes bei dir dafür bedanken, dass du die Hexe besiegt
und uns erlöst hast. Aber wo ist mein Töchterchen? Sie war in
deiner Begleitung, um dir bei deinem Vorhaben, Tunichgut
unschädlich zu machen, helfen zu können."
Der Jüngling dachte an das
winzige Wesen, das er bei der Hütte zurückgelassen hatte. Doch
bevor er etwas zu seiner Verteidigung erwidern konnte, vernahm
er eine weitere Stimme: "Mutter, hier bin ich!"
Der Prinz wandte sich um und
erblickte ein Elfenmädchen. Es lächelte, aber er ließ sich nicht
darauf ein und sagte schroff: "Nun lasst mich endlich meine
Heimreise fortsetzen. Mein Vater wartet bereits auf mich."
"Ihr habt die Kugel, Prinz",
sagte jetzt die Elfenprinzessin, "aber habt Ihr nicht etwas
vergessen? Waren es nicht zwei Dinge, die Euer Vater verlangt
hatte, damit Ihr den Thron besteigen dürft?"
Verdattert blickte der Königssohn
die Elfe an. Das hatte er vollkommen vergessen! Sein Vater hatte
von einem Zauberwort gesprochen, als er ihn ausschickte, die
Kugel zu holen.
„Wie in drei Teufels Namen komme
ich jetzt an das Zauberwort?“, fragte er kleinlaut die
Elfenkönigin.
Diese neigte leise lächelnd ihren
Kopf.
„Das Zauberwort ruht tief in
deinem Herzen. Nur du allein kannst es ergründen“, antwortete
sie, bevor sie mit ihrem Gefolge genauso davon schwirrte, wie
sie zuvor dem Jüngling erschienen waren. Erst jetzt bemerkte der
Prinz die blühende Pracht der Wiese und die Schönheit seiner
Umgebung. Gedankenverloren ritt er langsam weiter und dachte an
die Worte der Elfenkönigin.
„Was kann sie nur damit gemeint
haben?“, fragte er sich.
Wütend darüber, dass ihm das
Zauberwort nicht einfiel, gab er seinem Pferd die Sporen, sodass
dieses schmerzhaft wieherte und mit einem Satz davonsprengte.
„Los, du lahmer Gaul, bring mich
nach Hause und zwar geschwind!“, befahl der Prinz lauthals.
In gestrecktem Galopp setzte das
Tier über die blühende Wiese hinweg.
Durch einen Windstoß wurde das
schwarze Tuch von der Kristallkugel geweht und sie begann hell
zu leuchten.
„Wenn du so weiter machst, wirst
du nie das Zauberwort finden“, ertönte eine Stimme aus der
Kugel.
Erstaunt sah sie der Königssohn
an und entdeckte darin das Gesicht der kleinen Elfe.
„Lass mich in Ruhe, du nervendes
Wesen!“, schnauzte er zurück. „Sag mir das Zauberwort oder geh
mir aus den Augen!“
Im selben Moment war ein leises
Lachen zu hören und das Licht in der Kugel erlosch.
Jetzt war der Prinz auf sich
alleine gestellt. Kurzerhand zügelte er sein Ross, sprang herab
und setzte sich unter einen Apfelbaum. Er musste nachdenken.
Wie konnte nur das Zauberwort
lauten? Was habe ich gerade getan, als die Elfe erschien?
Die Stirn des Jünglings legte
sich in Falten.
„Ich habe mein Pferd
angetrieben“, dachte er. „Was ist daran falsch? Aber, warum habe
ich ihm die Sporen gegeben?“
„Na ja, du wolltest schnell nach
Hause kommen“, flüsterte ihm eine innere Stimme zu. „Du warst
UNGEDULDIG!“
Der Prinz stutzte. Ja, ungeduldig
war er schon immer. Aber trotzdem hatte er noch nicht das
Zauberwort gefunden.
Sosehr er auch grübelte, es
wollte ihm nicht gelingen des Rätsels Lösung zu finden.
Vorsichtig spähte er in alle
Richtungen. Sichtlich befand er sich allein in dieser Gegend.
Die Sonne näherte sich schon dem
Horizont und die Abenddämmerung brach heran. Schon etwas
schläfrig ließ sich der Königssohn ins weiche Moos gleiten,
schloss die Augen und fiel in einen leichten Schlaf.
Im Traum sah er sich des Vaters
Thron besteigen. Hofgesinde, Minister und die königliche Armee
verneigten sich tief zu seinen Füßen. Mit großer Genugtuung war
er bereit, die königliche Krone zu empfangen. Plötzlich wurde er
jäh aus dem Schlaf gerissen.
„Hier finde ich dich, du elender
Widersacher!“, krächzte eine Stimme von oben herab.
Der Prinz fuhr auf und sah eine
Krähe in den Zweigen des Apfelbaumes sitzen.
„Wer bist du und warum
erschreckst du mich, einfältiger Vogel?“
„Sieh an, sieh an. Auch wenn du
meine Zauberkugel in deinen Besitz gebracht hast, bin ich noch
immer allgegenwärtig. Hüte dich, denn du wirst mir nicht
entkommen!“
Der Prinz hatte sich schon am
Ziel seiner Wünsche gesehen und das nicht nur in seinem Traum,
doch nun drohte ihm erneut Gefahr. Fest presste er den magischen
Gegenstand an seine Brust. Er wollte seinen Schatz verteidigen,
koste es, was es wolle, denn er war die Tür zum Thron.
"Nun, Prinz, gib mir freiwillig
mein Eigentum zurück, dann lass ich dich unbeschadet heimreiten."
"Niemals!", rief der Jüngling
aus.
Die Krähe schrie mit einem Male
so laut, dass der Prinz sich die schmerzenden Ohren mit beiden
Händen zuhalten musste. Dabei entglitt ihm die Kugel und fiel zu
Boden. Als er sich dieses Fehlers bewusst geworden war, erschrak
er und sprang sofort vom Pferd, um seinen Schatz noch vor dem
Vogel zu erhaschen.
Und dann sah er sie, die kleine
Elfe und in ihren Händen hielt sie die Kugel.
"Gib sie mir, gib sie mir!",
krächzte der Vogel und verstummte jäh in dem Augenblick, als ein
sternförmiger Lichtstrahl aus den Augen der Elfe die Krähe traf.
Der Königssohn stand staunend da und sah zu, wie der schwarze
Vogel sich vor seinen Augen in Luft auflöste.
Sekunden des Schweigens
verstrichen, dann streckte der Prinz seine Hände nach der Kugel
aus. "Nun gib sie mir!", befahl er und in seiner Stimme lag
Ungeduld.
"Nein. Ihr erhaltet sie, wenn Ihr
das Zauberwort sagt. Horcht tief in Euer Herz hinein und sucht
dort nach etwas, das Euch in Eurem Leben bisher fremd war."
"Ich habe keine Lust auf
Spielchen, Elfe. Mein Leben ist ausgefüllt von Glanz und
Reichtum. Ich will regieren, um noch mehr Ruhm und Ehre zu
erreichen, als mein Vater."
"Was ist an der Regierung Eures
Vaters denn falsch?", wollte die Elfe wissen.
"Mein Vater ist zu gutmütig und
das Volk ...", der Prinz kam ins Stocken.
"Ja und was tut das Volk?" Die
Stimme der Elfe war beinahe zärtlich geworden.
„Wenn ich es so recht bedenke,
steht das Volk eigentlich hinter dem König“, wunderte sich der
Jüngling.
„Und woran liegt das?“ Das
Elfchen ließ nicht locker in dem Bemühen, sein Gegenüber auf den
richtigen Pfad zu bringen.
„Mein Vater ist sehr geduldig im
Umgang mit den Menschen. Auch mir hat er, als ich noch ein
kleiner Bub war, immer wieder meine Fragen beantwortet. Nie
wurde er es leid, mit mir zu spielen. Immer und überall durfte
ich mit meinen Sorgen und Nöten zu ihm kommen. Er hatte für alle
ein offenes Ohr und vielen Menschen mit seiner Weisheit und Güte
geholfen.“
Den Prinzen traf die Erkenntnis
wie ein Blitz. Er glaubte nun, das Zauberwort zu kennen.
Doch wie sollte er jetzt wieder
an die Kugel kommen?
Die kleine Elfe schien seine
Gedanken erraten zu haben und nickte freundlich. Immer noch
hielt sie das Zauberglas hinter ihrem Körper verborgen.
"Wann wirst du mir den magischen
Gegenstand zurückgeben?", fragte er und wieder war Ungeduld aus
seiner Stimme zu hören.
"Stellt die Frage etwas anders
und verwendet dabei das Zauberwort", gab das zarte Wesen zur
Antwort.
Der Prinz überlegte einen Moment
und knirschte dabei mit den Zähnen. Es fiel ihm schwer dieses
eine Wort zu gebrauchen. Schließlich zwang er sich und fragte:
"Wie viel GEDULD muss ich aufbringen, damit ich die Zauberkugel
wieder bekomme?"
Das Elfchen sah ihn verschmitzt
an und lachte. „Ihr kennt des Rätsels Lösung, doch Eure
Eitelkeit hält sie zurück. Des Königs Thron bleibt Euch verwehrt
bis an den Tag, an dem Ihr nicht nur das Zauberwort aussprecht,
sondern auch Euer Herz es begehrt.“
Nachdenklich blickte der
Königssohn die Elfe an.
„Mir verlangt es nicht nach
Schmeicheleien. Nun gib mir schon die Kugel! Ich werde das
magische Wort nicht nur verkünden, sondern auch danach handeln.“
Misstrauisch blinzelte das
winzige Wesen ihn an und entgegnete enttäuscht:
„Ihr scheint es immer noch nicht
richtig verstanden zu haben! GEDULD lässt sich nicht nach
Minuten, Stunden oder gar Jahre bemessen! GEDULD lässt sich
nicht danach berechnen, wie viel Ihr an GEDULD aufbringen müsst,
um Eure Ziele zu erreichen. Die GEDULD entspringt Eurem
Innersten und es kann noch Monate oder sogar Jahre dauern, bis
Ihr den Thron Eures Vaters besteigen dürft und König werdet.
Dabei wird Euch die Zauberkugel und das Wissen um das Zauberwort
alleine nicht helfen.“
Zögernd reichte die Elfe dem
Prinzen mit diesen Worten die Kugel.
Der Königssohn riss sie der Elfe
aus der Hand. Ohne ein Wort des Dankes ritt er hochmütig davon.
Endlich hatte er den begehrten Gegenstand und wusste um das
Zauberwort. Jetzt musste sein Vater abdanken und ihm den Thron
übergeben, wenn der König zu seinem Wort stehen wollte. Der Weg
führte den Reiter durch dunkle Wälder, über blühende Felder und
vorbei an kleinen Dörfern. Sein Blick irrte ständig umher und
suchte nach den sieben Eichen, die er auf seiner Reise ins
Ungewisse hinter sich gelassen hatte. Auch von den dreizehn
Flüssen hatte er noch keinen wieder überqueren müssen. Trotz
seiner Müdigkeit gönnte er sich nun keine Rast mehr. Die Kugel
fest an den Körper gepresst trieb er sein Pferd mit der Peitsche
zur Eile an, um auf dem schnellsten Weg zurück in das Königreich
seines Vaters zu gelangen.
Plötzlich verspürte der Prinz
einen heftigen Ruck.
Das Tier war so unversehens
stehen geblieben, dass der Reiter um ein Haar das Gleichgewicht
verloren hätte und auf den Boden gestürzt wäre. Was hatte das
nun wieder zu bedeuten? Und dann sah er ihn, den großen, dicken
Baum, der sich ziemlich rasch auf ihn zu bewegte.
„Das gibt´s doch nicht!“, sprach
er laut vor sich hin, narrte ihn da ein Spuk oder spielte ihm
seine Fantasie einen Streich? Er konnte nicht verhindern, dass
ihm plötzlich Schweißperlen auf die Stirn traten. Er war
durchaus nicht ängstlich. Nein, das lag ihm fern, aber das, was
er erblickte, konnte den stärksten Mann umhauen.
Als die Eiche jetzt direkt vor
ihm zum Stehen kam, wie wild mit ihren Ästen in der Luft
herumwirbelte, bemerkte der Prinz, dass der Baum sogar ein
Gesicht hatte, und dieses erinnerte ihn sehr stark an jemanden
und er wusste auch, an WEN.
Suchend sah er sich nach der
kleinen Elfe um, konnte sie aber nirgends entdecken. So war er
ganz allein auf sich gestellt.
„Hab ich dich nicht gewarnt?“,
raunte die Eiche und hauchte ihren modrigen Atem dem Prinzen
entgegen. Hastig suchte dieser nach seinem Schwert, aber die
magische Kugel hinderte ihn daran. Gerade als sich seine Finger
fest um die Waffe schlossen, entglitt ihm das Zauberglas. Mit
einem lauten Aufschrei sah es der Königssohn entschwinden.
Die Eiche, die keine andere war
als die böse Hexe, lachte, dass es über das ganze Tal
hinwegschallte.
„Was willst du mit deinem Schwert
gegen mich ausrichten?“, höhnte sie. „Aber du hast es ja nicht
anders gewollt und musstest dich unbedingt mit mir anlegen.
Deine kleine Helferin kann dir jetzt auch nicht dienen. Du
hättest vielleicht etwas netter und freundlicher zu der Elfe
sein sollen, bevor du sie fortgeschickt hast. Ein paar liebe
Worte hätten ihr wohl besser gefallen.“
„Das sagst ausgerechnet du?“,
wunderte sich der Prinz und schielte dabei zu der Kugel, die ins
hohe Gras am Wegesrand gerollt war.
„Ich bin Tunichgut, die Hexe. Von
mir kannst du also keine Liebe und Freundlichkeit erwarten. Aber
auch dir, Königssohn, der du einen gütigen Vater hast, scheinen
diese Eigenschaften fremd zu sein.“ Die Eiche lachte erneut und
der Prinz war mit einem Male sehr nachdenklich geworden. Liebe,
Freundlichkeit! Diese Worte schwirrten in seinem Kopf herum und
suchten eine Tür in sein Herz.
Für mehrere Sekunden war er
unaufmerksam und achtete nicht auf die Hexe.
Seine Gedanken wanderten zu der
kleinen Elfe. Er hatte wirklich nicht viele Freundlichkeiten für
sie übrig gehabt. Doch trotzdem war sie immer da gewesen und
hatte geholfen, wo sie konnte. Der Prinz fühlte sich elend. Ein
leichtes Kribbeln machte sich in seinem Bauch breit, begleitet
von einem unaufhörlichen Ziehen. Diese Gefühle wurden immer
stärker, vor allem, wenn er sich das Bild des zarten Wesens in
Erinnerung rief. Doch was um Himmels willen war das? Sollte das,
was er da so durchdringend verspürte, die viel umschriebene
Liebe sein, die er bisher genauso wenig kannte wie das
Zauberwort?
Die Hexe nutzte des Prinzen
Unaufmerksamkeit schamlos aus. In ihrer Gestalt als Baum hob sie
einen dicken Ast und wollte ihn gerade auf den Jüngling
herabsausen lassen, als ein kleines, glitzerndes Etwas sich
zwischen die beiden stellte. Doch es war zu spät. Die Hexe hatte
ihre Asthand bereits in Bewegung gesetzt und mit einem holzigen
Geräusch traf sie auf die kleine Elfe. Jede Menge Elfenstaub,
den das Wesen noch in ihren Taschen trug, wirbelte herum und die
Kleine fiel zu Boden als wäre sie ein Stein. Entsetzt lief der
Prinz zu der regungslosen Gestalt.
"Bitte kleine Elfe, bitte wach
wieder auf!", flehte er verzweifelt. Das kleine Wesen öffnete
leicht die Augen und sprach leise: "Meine Aufgabe ist erfüllt.
Ich habe Euch vor der Hexe gerettet, nun nehmt die Kugel und
geht!" Doch der Jüngling schüttelte den Kopf. "Nein, ich werde
dich nicht alleine lassen. Komm mit mir auf meines Vaters
Schloss und bleib an meiner Seite!", bat er eindringlich.
"Wieso?", flüsterte die Elfe, am Ende ihrer Kräfte. "Weil ...
weil ich dich liebe, kleine Elfe!", stieß der Prinz hervor. Da
fiel plötzlich der Elfenstaub, der durch die Wucht des Schlages
herumgewirbelt wurde, wie eine sanfte Decke auf die beiden
hernieder. Das kleine Wesen atmete tief ein und aus und dann
setzte es sich auf. "Jetzt weiß ich, dass du mich tatsächlich
liebst, denn nur eine Elfe, die aus vollem Herzen geliebt wird,
kann vom Elfenstaub gerettet werden!"
Verwirrt blickte der Königssohn
zu dem knorrigen Gebilde. Wo ihm zuvor noch das hässliche
Antlitz der alten Hexe entgegensah, erkannte er jetzt ganz
deutlich das Gesicht der Elfenkönigin.
„Setz dich zu meinen Wurzeln, ich
möchte dir eine Geschichte erzählen. Jetzt, wo dein Herz durch
die Liebe geöffnet worden ist, erkennst du vielleicht die
Bedeutung des Zauberwortes.“
Staunend ließ der Jüngling sich
zu Füßen der Eiche nieder und lehnte sich gegen den mächtigen
Stamm.
„Es war einmal ein junger Maler“,
begann der Baum zu erzählen. „Der hatte nur ein Ziel vor Augen;
er wollte unbedingt schnell reich und berühmt werden. Voller
UNGEDULD begann er damit, seinen Traum zu verwirklichen. Er
malte viele Tage und Nächte, um seine Bilder im Palast des
Königs ausstellen zu können. Die Menschen sollten ihn mit
Hochachtung behandeln und sagen: ‚Schaut, das ist ein berühmter
Maler’.“
„Was ist denn so falsch daran,
reich und berühmt zu werden?“, unterbrach der Prinz die
Erzählung.
„Eigentlich ist es kein Fehler,
ein großes Ziel zu verfolgen, aber wenn der Blick nur auf dieses
Eine gerichtet ist, erkennt man die Schönheit seiner Umgebung
nicht mehr. Man übersieht die vielen Dinge, die Freude bereiten.
So ging es auch unserem Maler. Er malte seine Bilder nicht, um
andere glücklich zu machen, sondern nur, um bekannt zu werden.
Er hörte auch nicht zu, um von den anderen seiner Zunft zu
lernen, und er übersah die vielen wunderschönen Dinge, die
seinen Lebensweg säumten, um wieder neue zauberhafte Bilder
malen zu können.“
„Was ist aus dem Maler
geworden?“, fragte der Jüngling skeptisch.
„Seine Bilder wurden im Palast
ausgestellt und viele Neugierige kamen von weit her, sie zu
sehen“, erwiderte die Eiche. „Aber er erlangte keine Reichtümer
und wurde auch nicht berühmt. Seinen Bildern fehlte es an Farbe
und Glanz. Der Jüngling hatte sein Augenmerk zu sehr auf Ruhm
und Ehre gerichtet. Ihm fehlte die GEDULD, die Schönheit der
Natur zu beobachten, um sie in aller Pracht auf der Leinwand
darzustellen.“
Der Prinz hatte die Augen
geschlossen und war sehr still geworden, nachdem die
Elfenkönigin ihre Geschichte beendet hatte. Er dachte über sich
und sein bisheriges Leben nach. „War denn alles falsch, was ich
bisher getan habe?“, fragte er sich im Stillen.
„Ja!“, ertönte da seine innere
Stimme. „Du bist wie der Maler, dessen Bildern die Farbe
fehlte.“
„Aber habe ich zuhause nicht
alles, was ich brauche, außer dem Thron meines Vaters?“, dachte
er weiter.
„Nein!“, wieder hörte er diese
innere Stimme. „Du hast viel, doch Gefühle wie Liebe und Geduld,
Nächstenliebe und Achtung, bekommt man nicht für alles Geld der
Welt.“
Als der Jüngling die Lider
öffnete, war er ein Anderer geworden. Er schaute sich um und
plötzlich sah er nicht nur Wiesen, Felder, den Weg, den er
geritten war, sondern bemerkte auch die Blumen auf dem Rasen,
die Schmetterlinge, die von Blüte zu Blüte flogen. Er
beobachtete Libellen, die in der Luft umherschwirrten und ein
Amselpärchen, das sich in den Ästen der Eiche niedergelassen
hatte.
Dann wandte er sich der Elfe zu.
„Und du, kleine Elfe, hast du mich denn auch lieb?“
„Ja, das hab ich.“ Ihre zarte
Stimme war nur ein Hauch, doch der Prinz verstand es trotzdem.
„Warum? Wo ich doch oft so
unfreundlich zu dir war?“, fragte er.
„Weil ich von Anfang an gespürt
hatte, dass du tief in deinem Herzen kein schlechter Mensch
bist“, antwortete die Elfe. „Macht und Reichtum hatten dich so
sehr geblendet, sodass für dein Herz kein Raum mehr frei war.“
„Dann kommst du mit mir auf
meines Vaters Schloss?“
„Wird der König uns seinen Segen
geben?“, fragte die Elfe zaghaft.
„Das muss er einfach!“ Wieder
einmal ging die Ungeduld mit dem Prinzen durch.
Doch kaum waren diese Worte über
seine Lippen gekommen, schlug er sich mit der flachen Hand auf
den Mund.
„Oh! Ich sehe schon, nicht nur
ich muss mich in GEDULD üben, sondern auch du, kleine Elfe,
musst geduldig mit mir sein.“ Lächelnd sah er das zarte Geschöpf
an seiner Seite an.
„Dann wollen wir mal meinen Vater
mit unserer Liebe zueinander überraschen.“
Vorsichtig nahm er die Elfe hoch
und setzte sie vor sich in den Sattel.
„Halt!“, rief die Elfenkönigin.
„Wollt ihr nicht die Zauberkugel mitnehmen?“ Leicht beugte sich
der knorrige Baum nach vorne und ein Ast griff nach dem
magischen Gegenstand.
Der Prinz wurde vor Verlegenheit
ganz rot im Gesicht. Jetzt hatte er vor aller Liebe zur Elfe
seinen eigentlichen Auftrag vergessen. Er nahm die Kugel
entgegen, bedankte sich bei der Elfenkönigin und ritt mit seiner
Liebsten davon.
Kaum waren sie ein Stück des
Weges, als wie von Geisterhand aus dem Boden dichtes Unterholz
emporwuchs, das man weder umgehen noch durchdringen konnte. Die
Zweige voller stacheliger Dornen, Büsche mit Brennnessel so
dicht, dass des Prinzen Pferd scheute.
Der Königssohn sprang vom Ross
und bahnte sich mit seinem Schwert einen Pfad durch das
Dickicht.
Er ging weiter, aber wie schwer
fiel es ihm, voranzukommen. Kaum hatte er sich einen Weg
geschaffen, als das Geäst wie von selbst zu laufen begann. Es
war schier unmöglich, daran vorbei zu gelangen. Nun empfing ihn
eine zunehmende Dunkelheit, bis seine Augen kaum noch etwas
wahrnahmen. Plötzlich funkelte inmitten dieser nachtschwarzen
Finsternis ein Augenpaar. Erst unscheinbar gelb, dann wurde es
zu einem feurigen Rot.
„Wer versucht mich zu narren?“,
rief der Prinz in die Dunkelheit hinein. „Zeig dich! Du sollst
die Klinge meines Schwertes spüren.“
Die kleine Elfe flüsterte ihm ins
Ohr: „Lass Vorsicht walten! Mit Tunichgut ist kein Schabernack
zu treiben.“
Plötzlich vernahmen sie ein
Säuseln, das immer lauter klang und in ein Kichern überging.
„Gib mir mein Eigentum, dann gebe
ich den Weg frei!“, forderte die Alte.
Eine unsichtbare Hand versuchte
dem Jüngling das Zauberglas zu entreißen, doch er hielt es mit
eisernem Griff umspannt.
„Wie dem auch sei“, fauchte die
Hexe, „dann nehm´ ich dir dein Liebstes!“ Augenblicklich
schlangen sich derbe, dornige Zweige um die kleine Elfe. Diese
versuchte sich vergebens herauszuwinden, jedoch die spitzen
Dornen drangen in ihren zarten Leib.
Entsetzt sah der Prinz auf das
Elfchen und wusste ihr nicht zu helfen. In seinem Zorn nahm er
das magische Glas und warf es gegen einen Stein, dass es in
tausend Stücke zersprang.
Die Hexe schrie gellend auf.
Augenblicklich verwandelte sie sich in einen roten
Nebelschleier, der zunehmend zwischen den Bäumen verschwand.
Und dann, keiner weiß, wie es
geschah, fiel strahlendes Sonnenlicht auf die dunklen Bäume.
Freundliche Gesichter blickten dem Prinzen lachend entgegen.
Erstaunt erkannte er einige der jungen Königssöhne aus fernen
Landen, die er zuvor schon am Hofe seines Vaters gesehen hatte.
Als die Jünglinge merkten, dass sie ihre menschliche Gestalt
zurückerhielten, war die Freude riesengroß. Aus dem grausigen
Unterholz wurden leuchtende Sonnenblumen. Mühelos konnte der
Prinz nun seine Liebste aus den Blumengirlanden befreien.
Glücklich setzte er sie vor sich auf sein Pferd, und ein Teppich
aus Blütenblättern wies ihnen den Weg über dreizehn Flüsse und
vorbei an sieben Eichen.
Als man dem König die Rückkehr
seines Sohnes meldete, lief dieser so schnell ihn seine Füße
trugen zum Burgtor, um seinen Sohn in die Arme zu schließen.
Groß war sein Erstaunen, als er neben dem Jüngling eine
wunderschöne, junge Frau sah, die seltsamerweise zwei zarte
Flügelchen auf dem Rücken trug. Als die beiden ihm dann ihr
Abenteuer erzählt hatten, rief der Herrscher strahlend: "Hört,
ihr Vasallen! Ein großes Fest will ich geben zu Ehren meines
Sohnes und seiner zukünftigen Gemahlin. Beide sollen von nun an
dieses Reich regieren. Der neue König wird allen ein gerechter
Herrscher sein, denn er hat gelernt, dass Geduld und Liebe
wichtiger sind, als alle Gier nach Macht.
"Halt, Vater! Nicht so
ungeduldig!", unterbrach der Prinz die lange Rede. "Ich habe
jetzt so lange mit Ungeduld auf den Thron gewartet. Nun sollt
Ihr sehen, dass mir die letzte Zeit zu denken gegeben hat."
Behutsam nahm er seine zarte Frau
in die Arme. "Meine Liebe, wenn du einverstanden bist, dann
wollen wir unsere Zweisamkeit noch eine Weile genießen und dem
jetzigen König die Regentschaft noch ein paar Jahre überlassen."
"Wie du möchtest, mein Liebster",
antwortete die Elfe und kuschelte sich in die Arme ihres
künftigen Gatten.
"Seht Vater, Ihr müsst Euch noch
in etwas Geduld fassen, bevor Ihr Euch zurückziehen könnt." Der
Prinz grinste schelmisch. "Nun wünsche ich mir nur noch ein
Festmahl zu unserer Hochzeit!"
Die Untertanen, die sich auf dem
Schlosshof versammelt hatten, jubelten dem jungen Paar zu und
ließen den alten König hochleben!
So hatte am Ende der Prinz seinen
Vater noch gelehrt, nicht ungeduldig zu sein.
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